Der Winter-Blues – Von Sommer- und Wintermenschen
Wie Jahreszeiten uns verändern und was Bruder Bär uns über den Winter-Blues lehrt
Müdigkeit, Schlappheit, Antriebslosigkeit; ist dir das Stimmungstief vertraut, das mit der kälteren Jahreszeit einhergeht? Wenn die Tage kürzer und trüber werden und wir die wenigen Sonnenstunden fast ausschließlich in der Arbeit und in geschlossenen Räumen verbringen, kann das schnell aufs Gemüt schlagen.
Das saisonale Phänomen der getrübten Stimmung wird umgangssprachlich Winter-Blues genannt. Es herrscht weithin Einigkeit, dass insbesondere fehlendes Sonnenlicht dafür verantwortlich ist. Doch ist der Mangel an Sonnenlicht die wahre Ursache?
Wenn wir uns unserer Herkunft erinnern, können wir herausfinden, was dahintersteckt.
Steckt der Winter-Blues in unseren Genen?
Dass das Sonnenlicht beim Winter-Blues eine wichtige Rolle spielt, ist Forschern allgemein bekannt. Die Menge an Sonnenlicht die auf Netzhaut der Augen trifft wirkt für unseren Organismus wie ein Zeitgeber. Bei sommerlicher Sonnenstrahlung senden die lichtempfindlichen Ganglienzellen der Netzhaut Signale an unser Gehirn – genauer gesagt an die Zirbeldrüse – welche das Schlafhormon Melatonin hemmen. Wir bleiben also wach.
Im Winter, wenn sich die Tageslichteinstrahlung verringert, wird das Melatonin kaum noch gehemmt. Als Folge fühlen wir uns anhaltend müde und antriebslos. Dass wir uns im Winter an den kürzeren Tagen häufiger in geschlossenen Räumen aufhalten, tut sein Übriges.
Inzwischen wird davon ausgegangen, dass neben der Melatoninausschüttung weitere Mechanismen, besonders in unserem Immunsystem und unserem Darm, in Gang gesetzt werden, die uns auf Sparflamme vorbereiten.
Wie ein britisch-deutsches Forscherteam herausgefunden hat, haben wir Sommer- und Wintergene. Diese Saisonarbeiter kurbeln, wenn der Winter kommt, unser Immunsystem und Fettstoffwechsel an. Ihre „BABYDIET“ Studie[1] zeigt: Die Aktivität bestimmter Gene des Immunsystems schwanke mit den Jahreszeiten jeweils passend zu den zu den vor Ort herrschenden Herausforderungen zu Sommer und Winter. Unser Körper geht in dieser Zeit der natürliche Aufgabe nach, die ihm im Laufe der Evolution zukam.
Dich plagt der Winter-Blues? Sei wie Bruder Bär!
Auch wenn es bei den klassischen Symptomen von Müdigkeit, Abgeschlagen- und Niedergeschlagenheit schwer vorstellbar klingt, versucht uns unsere Natur in dieser Zeit einen Gefallen zu tun.
Lass und dazu bei denen schauen, die ihr Leben noch nahe an ihrer Natur führen. Für das Volk der Ojibwa, die an den großen Seen im Norden der USA und Kanada leben gibt es nur zwei Jahreszeiten: Die Green und die White Season. Wer sich schon einmal mit dem Klima vor Ort auseinandergesetzt hat, wird es verstehen. Die Übergangsjahreszeiten Frühling und Herbst, sind kaum existent. Und da die Ojibwa diesem Land entspringen, unterliegen sie seinem Rhythmus. Sie sagen, „wir sind mal Sommer- mal Wintermenschen.“ Klingt das nicht nach Sommer und Wintergenen?
Als ich mich eines Winters mit meinem Winter-Blues plagte, bat ich meinen damaligen Mentor um Hilfe und Antworten. Er, der in die Bräuche der Ojibwa initiiert wurde entgegnete mir: „Sei wie Bruder Bär!“ Das war für mich der Anstoß, für Lektion zum Winter-Blues zuallererst mehr über Bruder Bär zu erfahren.
Das Leben von Bruder Bär?
Gedanklich versetze ich mich in das Leben von Bruder Bär. Wenn im April der Frühling erwacht, werde ich aktiv. Ich recke und strecke meinen mageren Körper und atme den frischen Frühlingsduft der Buschwindröschen. Was ich jetzt am dringendsten benötige, ist gutes Essen, um wieder zu Kräften zu kommen. Also ziehe ich auf der Suche nach Futter umher.
Ist der Frühling fortgeschritten und ich gesättigt, regt sich ein anderes Bedürfnis in mir. Ich strecke meine Nase in den Himmel und prüfe die Luft nach dem Geruch von Bärinnen. So streife ich im Früh- und Hochsommer umher, in der Hoffnung eine Bärenfrau zu finden und mich zu paaren. In dieser Zeit gibt es für mich und meine Bärenbrüder und Schwestern genug zu essen und viel zu erleben.
Doch sobald der Sommer zu Ende geht, verändert sich etwas in mir. Ein großer Hunger befällt mich und lässt kaum Sättigung zu. In den Herbstmonaten benötige ich bis zu 20.000 Kalorien pro Tag. Zum Glück sorgt Mutter Erde für mich. Meine Pflanzenbrüder und Schwestern lassen allerhand Früchte für mich reifen. Es ist die Zeit der Dankbarkeit.
Wenn die Sonne noch weiter sinkt und die Kraniche die ersten Nordwinde ankündigen, beginne ich eine Höhle zu graben, um dort den Winter zu verbringen. Ich bewege dazu bis zu einer Tonne Erde und polstere die Höhle mit Zweigen, Laub und Gräsern aus. Mit Anbruch des Winters, zieht sich das Leben in den Schoß von Mutter Erde zurück. Meine Nahrung wird nun knapp und ich werde unglaublich müde, schlapp und antriebslos. So ziehe auch ich mich unter die Erde zurück und falle zufrieden in einen tiefen Dämmerzustand. Es ist die Zeit der Träume und Regeneration, für alle Kinder dieser Erde.
Halten wir von Natur aus Winterschlaf?
Was können wir von Bruder Bär lernen? Wir haben eine Gemeinsamkeit, denn auch wir Menschen werden mit abfallendem Sonnenwinkel von Müdigkeit, Schlappheit und Antriebslosigkeit heimgesucht: Winter-Blues.
Dabei ist die Erklärung dahinter nur logisch: Ähnlich wie Bruder Bär schalten auch wir mit abnehmender Sonnenstundenzahl und Temperatur auf Sparflamme. Man kann sagen, dass der Winter-Blues mit einer abgeschwächten Variante des Winterschlafs einhergeht!
Was die Ojibwa und der Bär wissen, ist für unser Wohlbefinden von Natur aus wichtig: im Winter etwas auf die Bremse zu treten. Forscher an der Charité haben das mittlerweile auch herausgefunden[2]. Sie kommen zu dem Schluss: Biologisch gesehen bräuchten die Menschen im Winter mehr Schlaf. Die meisten Leute bleiben jedoch im Winter laut der Studie unverändert leistungsfähig, was in vielen Fälle zu einem Erschöpfungsgefühl führen könne.
Der vermehrte Schlaf, bis zu 16 Stunden am Tag, und die lange gemeinsame Pause machen für unsere Psyche Sinn. Im gemeinsamen Teilen unserer Erlebnisse in Form von persönlichen Geschichten beginnen wir zu verarbeiten. Wir bekommen eine Außensicht auf unser bisheriges Leben, gelangen zu neuen Einsichten und können uns weiterentwickeln.
Dasselbe gilt für unsere Träume. Sie sind die ursprünglichste Form der Psychohygiene, unser persönlicher Therapeut. Sie helfen uns all die offenen Fragen ans Tageslicht zu befördern, die uns unterbewusst beschäftigen. Als Wintermenschen haben wir Gelegenheit zu ausführlicher Pflege unseres psychischen Wohlbefindens. Auch dafür hat die Natur eine Veranlagung geschaffen, wie Andrew S. P. Lim und seine Kollegen an der Universität Toronto[3] herausgefunden haben. Im Winter nimmt unsere kognitive Leistungsfähigkeit ab. Mit zunehmender Langsamkeit unseres Neokortex bekommen wir mehr Gelegenheit zur Innenschau. Im Winter haben wir Ohren für unsere Träume, sagen die Ojibwa dazu. Denn unsere Träume entstammen dem älteren Teil unseres Gehirns, dem Limbischen System, das im Alltag für gewöhnlich von unserem rationalen Verstand überlagert wird.
Der Winter-Blues als Zeit des Zwiespalts.
Es ist die Zeit in der Mutter Natur allen eine regenerative Pause verordnet. Dieses Erbe ist bis heute in unseren Genen verankert. Im natürlichen Winterrhythmus rückten unsere Vorfahren am Feuer enger zusammen, erzählten Geschichten, spielten und schliefen lange. Bei diesem engeren Miteinander ist es nur logischer, dass unsere Immunabwehr vorbereitet ist. Außerdem ernährten wir uns Fettreicher, bzw. von eigenen Fettreserven. All das sind Teile des Zustandes, den die Ojibwa Wintermenschen nennen und den Bruder Bär im Dämmerzustand verbringt.
Im Gegensatz zu unserer natürlichen Veranlagung, die exzellent an die jahreszeitlichen Umschwünge in Nahrungsangebot, Sozialverhalten und unserer Psyche angepasst ist, lässt sich der Wintermensch in uns kaum noch mit unserem modernen Lebensstil vereinbaren. Arbeit, Familie und andere Verpflichtungen machen es nahezu unmöglich, die für unsere Regeneration notwendige Ruhephase einzuhalten: Produktivität wird heute unabhängig von Sonnenstunden, Tages- und Jahreszeit gefordert.
Hinzu kommen weitere Faktoren unserer Zeit, die die innere Uhr völlig durcheinanderbringen: Zeitumstellung, Lichtemission, Bildschirme und Geräuschkulissen stellen den Schlaf-Wach-Rhythmus vieler Menschen auf den Kopf.
Und noch eine Erscheinung der Moderne entspricht nicht mehr den natürlichen Vorgaben: Während damals in der winterlichen Saison nur wenig Nahrung zur Verfügung stand, gibt es heute sämtliche Ressourcen das ganze Jahr über im Überfluss.
Während die Natur allem Leben Urlaub verordnet, erlauben wir es uns oft nicht eine Pause zu machen. Es ist nicht natürlich, dass immer die Sonne scheint und es ist nicht natürlich immer nur zu leisten. Wie fühlst du dich, wenn du mal rumhängst? Was denkst du, denken andere dann über dich? Für die meisten von uns ist der Winter eine Zeit des Zwiespalts zwischen unseren inneren, natürliche Bedürfnissen nach Gemeinschaft, Ruhe und Schlaf und dem, was die Gesellschaft von uns erwartet. Das ist die wahre Ursache für den Winter-Blues.
Mein Rat zum Winter-Blues
Sei gnädig mit deiner Natur. Sei wie Bruder Bär und räume dir im Winter so viel umdisponierte Zeit wie nur möglich ein und schlafe lang. Mache Spaziergänge in der Natur und verbringe Zeit mit deinen Liebsten. Schalte die Bildschirme ab und zünde eine Kerze an. Iss zu Weihnachten ohne schlechtes Gewissen und nutze die Fastenzeit.
Dein Kevin Hildebrandt
von teRea
Quellen
[1] Dopico, X., Evangelou, M., Ferreira, R. et al. Widespread seasonal gene expression reveals annual differences in human immunity and physiology. Nat Commun 6, 7000 (2015).
[2] Dieter Kunz et al. Seasonality of human sleep: Polysomnographic data of a neuropsychiatric sleep clinic. frontiers (2023)
[3] Andrew S. P. Lim et al. Seasonal plasticity of cognition and related biological measures in adults with and without Alzheimer disease: Analysis of multiple cohorts.
Foto 1 von Marc-Olivier Jodoin auf Unsplash